Dr. Ursula Mildner
Prozeß Honigtuch – Trust
Erweiterter Kunstbegriff und soziale Plastik
als moderne Form des Decorums
In einem von den vielen Schreiben zum Multiple heißt es: "Beuys läßt schön grüßen." Aussagen dieser Art können in die Irre führen. Oft ist mit ihnen das Etikett von Nachranigkeit bzw. Zweitrangigkeit verbunden. Der Autor des Schreibens, ein Kunsthistoriker und langjähriger Leiter eines großen deutschen Kunstvereins, hatte aber wahrscheinlich anderes im Sinn. Joseph Beuys ist von seiner Position her – und so wird es auch im Museum der Stadt Ratingen seit Jahren vertreten – einer der wichtigsten – wenn nicht der wichtigste – Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er hat den traditionellen Kunstbegriff in einer folgerichtigen Art erweitert und mit der sozialen Plastik die kritischen Elemente der Kunst auf die alltägliche Welt übertragen. Beide Bereiche – der erweiterte Kunstbegriff wie die soziale Plastik – können als Weiterführung des "Decorums" in seiner ursprünglichen Form verstanden werden. Seit der Antike gilt das Decorum als ein wesentliches Merkmal des Kunstbegriffs. Als Kriterium für die Qualitätsmerkmale der verschiedenen Stilstufen und der mit ihnen verbundenen Wirkungsweisen auf den Betrachter, war es sowohl Regelwerk wie Methode. In den neu gegründeten Kunstakademien wurde das Regelwerk kanonisiert und verlor im 19. Jahrhundert mit den neuen Anforderungen an die Kunst seine Bedeutung. Der Begriff "Decorum" verkam zu "Dekoration". Als Methode jedoch ist das Decorum lebendig geblieben. Das "Decorum" regelt das Verhältnis zwischen Willkür und Notwendigkeit des künstlerischen Ausdrucks. So lange die Kunst einer Aussage zu dienen hatte, war das vorgegebene Thema ein wichtiger Maßstab für die Frage nach der richtigen, d.h. angemessenen Art der Darstellung. Zur Richtigkeit gehört aber auch das Moment des Schönen, da das Schöne als ein Ausdruck des ontisch Wahren einerseits das Kunstwerk mit seiner Abbildlichkeit rechtfertigte, andererseits die Proportionsschönheit rhythmische Elemente beinhaltet, die die richtige und angemessene Ausdruckswertigkeit der Form mitbestimmt. Das Decorum bringt sowohl das Schöne wie das Gute in Erscheinung; seine Grundlage ist das Wahre, wie es sich vor allen Dingen in den Weltbildern spiegelt. Die Veränderung des Weltbildes bewirkte folgerichtig auch eine Veränderung der Kunst. Mit der Berücksichtigung der Zeit als wesentlichem Element des universellen Daseins gewann mit dem Denken auch die Kunst Freiheit, Unabhängigkeit und Beliebigkeit. Wie immer man begründen mag, wer oder was für die Verdichtung der Energie in Materie zuständig ist – die Suche nach dem Wahren ist ein Wesensmerkmal der Kunst geblieben. Beuys hat das Decorum auf das neue Weltbild angepaßt mit einer an sich richtigen Schlußfolgerung. Er bezog es nicht nur auf die äußeren Erscheinungen und Ergebnisse, sondern darüber hinaus auch auf die Prozesse des Denkens und der innere Notwendigkeit des Handels. Sollte in diesem Sinne jeder Mensch ein Künstler geworden sein, könnte über die Bereiche der Kunst hinaus auch in der vom Menschen gestalteten Welt in allen ihren Bezügen letztendlich das Gute und das Schöne zur Erscheinung treten. Unter zweckdienlichen Gesichtspunkten hat die Methode des Decorum bereits Eingang in die neuen Steuerungsmodelle der Wirtschaft gefunden; im gesellschaftlichen Leben ist hiervon jedoch noch wenig zu erkennen. Das Projekt "Prozeß Honigtuch-Trust" von J.Georg Brandt ist ein erster Schritt auch in diese Richtung. Am Prozeß Honigtuch-Trust ist nicht nur der Künstler beteiligt, sondern mit ihm 100 Personen aus Ratingen und dem Freundeskreises des Ratinger Museums. Ihnen allen wurde ungefragt ein Teil des Tuches, mit Wachs und Blei zu einem Multiple verschnürt, für einige Zeit in Obhut gegeben. Es bestand die Option, über die Zeit der Vormundschaft ein Statement abzugeben. 64 Personen habe diese Möglichkeit der Reaktion und Mehrwertschaffung positiv oder negativ wahrgenommen. Nach Rückgabe wurde das Multiple auseinandergenommen, die Tuchteile zusammengenäht und mit dem Wachs getränkt und aus den Bleistücken eine Platte gegossen. Der Prozeß Honigtuch - Trust ist aber noch nicht zu Ende. Die Vormundschaft für das Teil ist zwar zurückgegeben worden, aber damit immer noch nicht erloschen. Jetzt sind alle 100 Personen als Trust für das Kunstwerk zuständig und müssen entscheiden, was damit in Zukunft zu geschehen hat. D.h., was vorher der individuellen Befindlichkeit unterstellt war, geht nun in gemeinsames Handeln über. Die erste Phase des Prozesses Honigtuch-Trust hat deutlich gemacht, wie unterschiedlich ein und das selbe Ding von verschiedenen Personen wahrgenommen und verarbeitet wird. Abgesehen von dem persönlichen Erlebnishorizont, der den Dingen eine bestimmte einmalige Wertigkeit und Bedeutung verleiht, spiegelt sich hierin auch die genetisch bedingte Struktur der Wahrnehmungsfähigkeit. Wahrnehmung erfolgt niemals ganzflächig, sondern immer nur punktuell, d.h. mit mehr oder weniger konkreten Anteilen und mehr oder weniger großen Lücken. Wie die moderne Hirnforschung zeigt, werden die Lücken zwischen diesen Punkten individuell ergänzt. "Objektive " Wahrnehmung ist demzufolge gar nicht möglich, und nur durch den Abgleich mit anderen kann eine Form von Intersubjektivität erzeugt werden, die eine größtmögliche Bandbreite der wahrnehmbaren Aspekte eines Gegenstandes oder Geschehens berücksichtigt hat. Toleranz muß also schon dort walten, wo die Möglichkeit eines solchen Abgleichs mit anderen – aus welchen Gründen auch immer - nicht wahrgenommen wird. Wenn es keine objektive Wahrnehmung gibt, gibt es auch den objektiven, allgemeinverbindlichen Standpunkt nicht. Auf Grund des modernen Weltbildes ist der Mensch in die Freiheit entlassen. Er ist gezwungen, seinen Standort selbst zu bestimmen und im Oszillationsfeld von Zeit und Vergänglichkeit immer wieder neu zu justieren. Schon da fängt der Mensch an, ein Künstler zu sein. Schon da kann er das Decorum nutzen, um "intelligente" Weltmodelle hervorzubringen, die der Humanität standhalten. Denn Intelligenz ist nach heutiger Definition der Hirnforschung die Fähigkeit, sich einer Sache angemessen zu verhalten. Das Projekt "Prozeß Honigtuch-Trust" hat hierbei seine Feuertaufe bestanden, der Trust hingegen hat sie mit den implizierten Einforderungen in Zukunft noch vor sich.
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